Deutsche Fortbildungsgesellschaft der HNO-Ärzte
Stellungnahme des wissenschaftlichen Rats zum Thema der
interdisziplinären Zusammenarbeit bei CMD

Zusammenhänge zwischen Ohrenschmerzen und Kiefergelenkdysfunktionen
Zusammenhänge zwischen Ohrenschmerzen und Kiefergelenkdysfunktionen
Prof. Dr. W. Elies (HNO), Prof. Dr. H. Knothe (Mikrobiologie);
PD Dr. G. Marklein (Mikrobiologie.); Prof. Dr. H. Matthys (Pneumologie);
Prof. Dr. P. Mösges (HNO); Dr. H.-M. Strahl (HNO)
3. Jahrgang 2007; Nr. 11
Seit der amerikanische HNO-Arzt James Costen 1934 als Erster auf die Zusammenhänge zwischen Ohrenschmerzen und Kiefergelenkdysfunktionen hingewiesen hat, ist sein Name bis heute mit diesem Syndrom verbunden. Wir wissen aber auch, dass seine Theorie nicht bestätigt werden konnte, deshalb definieren wir diese Erkrankungen heute als cranio-mandibuläre Dysfunktion (CMD).
Eine CMD hat viel mehr Auswirkungen, besonders in der HNO und dem orthopädischen Bereich, als allgemein bekannt ist. Das gilt natürlich auch für die Zahn-, Mund- und Kieferheil-kunde. Die Funktionsdiagnose- und Therapie [früher Gnathologie] ist kein Prüfungsfach an den Universitäten, und es gibt nur sehr wenige, die sich damit beschäftigen. Deshalb ist der normale Zahnarzt mit der Behandlung einer CMD überfordert. Ihr Ansprechpartner ist der Zahnarzt, der die Funktionstherapie als Spezialist oder als Tätigkeitsschwerpunkt ausübt.
Diese Erkrankungen können nur interdisziplinär erkannt und erfolgreich behandelt werden. Vielfach kommt es nicht zu dieser Zusammenarbeit, weil erstens der Zahnarzt nicht in das ärztliche Netzwerk eingebunden ist, zweitens, weil diese Zusammenhänge von vielen HNO- und Zahnärzten nicht erkannt werden. Eine CMD kann entweder durch einen falschen Zusammenbiss der Zähne oder durch eine fehlerhafte Position der Kiefergelenke ausgelöst werden. Dies wird in der Wissenschaft immer mal wieder kontrovers diskutiert.
Eine CMD kann Schmerzen im Bereich von Ohr, Schläfe, Stirn, Scheitel, Ober-, Unterkiefer und Nacken-Schulter hervorrufen. Diese Schmerzen werden häufig fälschlicherweise als Migräne diagnostiziert, da sie auch mit Erbrechen einhergehen können. Man schätzt, dass ca. 70 % aller Spannungskopfschmerzen durch eine CMD ausgelöst werden. Ebenfalls werden nicht selten Symptome beobachtet wie Kälte- und Taubheitsgefühl, Übelkeit, Hörverlust, akuter Hörsturz. Ohrphänomene wie hörbares Ticken oder die Velum-Tensor-Tympanie-Myoklonie, Schluckbeschwerden, Schnarchen, Schlaf-Apnoe, Globusgefühl, Heiserkeit und Schwindel. Die durch CMD bedingten Gleichgewichtsstörungen sind zervikal durch Irritationen der Kopfgelenkmuskulatur bedingt.
Und sehr wichtig: Tinnitus wird zu ca. 25 % durch eine cranio-mandibuläre Dysfunktion ausgelöst. Man kennt die genaue Ursache noch nicht, aber man weiß empirisch, dass nach einer CMD-Behandlung mit Aufbissschienen eine Verringerung der Ohrgeräusche (bei diesem Viertel) zwischen 40 % und 100 % eintreten kann. In retrospektiver Analyse wurde bei 67 % der CMD-Patienten ein Tinnitus gefunden. Da Tinnitus auch von Funktionsstörungen der HWS ausgelöst werden kann, ist eine Differenzierung nötig, ob eine Mitbeteiligung der Kiefergelenke vorhanden ist. Denn eine CMD hat auch Auswirkungen auf die gesamte Wirbelsäule.
Das Kiefergelenk ist das komplizierteste. Gelenk des Menschen. Es kann als einziges seine Endposition nicht frei einstellen, die Zähne zwingen es in eine Endposition. Es steuert die Wirbelsäule und das Becken und bei einer CMD kann es zu einer Verkrümmung der Wirbelsäule und zum Beckenschiefstand kommen.
Durch diese Funktionsstörungen entstehen Rückenschmerzen, die von der HWS über die LWS bis in die Knie und Füße ausstrahlen können. 80 % dieser Rückenschmerzen, von denen die Orthopädie die Ursache nicht kennt, werden durch eine CMD ausgelöst. Unbehandelt körnen diese Funktionsstörungen letztendlich zu einem vorzeitigen Verschleiß der Wirbelgelenke und Bandscheiben bis hin zu einem Bandscheibenvorfall und Arthrose in den Hüft- und Kniegelenken kommen.
Alle diese Funktionsstörungen laufen meistens nach einem bestimmten Schema ab. Es bildet sich fast immer auf der Seite der Händigkeit eine Atlas-Blockierung sowie eine Axis-Blockierung zur Gegenseite. Das bedingt eine wechselseitige Blockierung der Wirbelsäule bis in den lumbalen Bereich. Die Blockierung der Iliosacral-Gelenke korreliert mit der Seite der Störung der Zähne. Dies definiert sich durch die variable Beinlängendifferenz, die durch die CMD ausgelöst wird.
Wenn eine CMD zu einem Vorschub des linken Beines führt, erfolgt die Ausgleichreaktion im ISG-Gelenk als Blockierung des rechten ISG-Gelenkes. Eine lnfraokklusion (kein Kontakt der Zähne) auf einer Seite von 20µ kann einen Beckenschiefstand von 10 mm auslösen.
Diese kinematische Kette vom Kiefergelenk zu den Füßen kann neben Gleichgewichtsstörungen, Rückenschmerzen, über die HWS einen Tennisellenbogen, Schmerzen in den Beinen, Knien und Füßen auslösen. Da diese Kette keine Einbahnstraße ist, können Störungen auch von unten nach oben zum Kiefergelenk gehen. Wenn bei einer funktionellen Beinlängendifferenz als Ausgleich eine erhöhte Einlage eingesetzt wird, wird sich der Zusammenbiss der Zähne sofort ändern. Da eine anatomische oder erworbene Beinlängendifferenz selten ist, ist eine erhöhte Einlage bei einer funktionellen Differenz kontraindiziert. Nach der Diagnose durch einen Orthopäden und durch die anschließende Behandlung der CMD durch einen Zahnarzt und Physiotherapeuten wird die Wirbelsäule und das Becken wieder gerade, die Rückenschmerzen verschwinden und die Beine sind wieder gleich lang.
Die Therapie der cranio-mandibulären Dysfunktion kann nur interdisziplinär mit HNO-Arzt, Orthopäden, Physiotherapeuten, Zahnarzt und anderen Fachärzten durchgeführt werden. Die zahnärztliche Therapie wird mit einer Aufbissschiene eingeleitet, die für 2 bis 3 Monate wöchentlich überprüft und eingeschliffen wird. Wenn das nicht geschieht, sondern die Schiene nur eingesetzt und ein halbes Jahr später kontrolliert wird, können Sie davon ausgehen, dass die Schiene nicht funktionsgerecht angewendet wird. Wenn keine Änderungen an der Schiene mehr auftreten und Beschwerden nicht mehr vorhanden sind, können die Zähne eingeschliffen oder, wenn Kontakt vorhanden ist, durch Kronen aufgebaut werden. Grundlegend bedarf es weiterer umfassender Forschungen auf diesem Gebiet. Eine Diskussion seitens der niedergelassenen Kollegen ist ebenfalls erwünscht.
Dr. med. H.-M. Strahl, Düsseldorf
Gastautor: Dr. med. dent. J. Dapprich, Düsseldorf
Literatur:
1. Für Zahnärzte: J. Dapprich (2004); Funktionstherapie, Quintessenz-Verlag, Berlin
2. Für den HNO-Arzt, Orthopäden, Zahnarzt u.a.: Ch. Köneke (2004); Die interdisziplinäre Therapie der CMD; Quintessenz-Verlag, Berlin
3. M. Grandjean, P. Bornhofen (2004); „Warum denn so verbissen“; Hrsg. Joy Verlag
4. J. Dapprich, Th. Pauly (2006) Kiefergelenk und Wirbelsäule; ZMK (21) 7-8/05